DIE CRAMER-KLETT-SIEDLUNG GUSTAVSBURG

Die Route der Industriekultur Rhein-Main führt entlang der industriekulturellen Orte zwischen Miltenberg am Main und Bingen am Rhein; dort liegt auch die kleine, romantisch anmutende Cramer-Klett-Siedlung, die im Volksmund auch liebevoll „Cramer“ genannt wird.

Die ehemalige „Klett-Kolonie“ wurde von der Maschinenfabrik Klett & Co. Nürnberg (der späteren MAN) in den Jahren 1896-1906 für die Arbeiterfamilien errichtet. So entstand ab 1897 zum ersten Mal ein richtiger Ort in Gustavsburg. Hier wohnten ausschließlich Mitarbeiter der Maschinenfabrik.

Abb. 1 (Straßenflucht Plan: Gustavsburg; 1894)

Die hessische Stadt Ginsheim-Gustavsburg liegt im Nordwesten des Landkreises Groß-Gerau am Zusammenfluss von Rhein und Main (Mainspitze). Der Stadtteil Ginsheim entwickelte sich durch seine idyllische Lage am Altrhein zu einem beliebten Wohn- und Naherholungsort. Die Entstehung des Stadtteils Gustavsburg ist eng mit dem Bau der Eisenbahnbrücke und der dauerhaften Ansiedlung des MAN-Werkes Gustavsburg, Zweigstelle der Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg (MAN) im 19. Jahrhundert verbunden.

In Gustavsburg entstand schon früh eine gewerblich-industrielle Struktur. Verschiedene Fabrik- und Wohnbauten, Brücken und Anlagen zeugen von dieser Entwicklung und sind heute Teil der Industriekultur. Als 1856 mit dem Bau der Eisenbahnlinie Mainz-Darmstadt-Aschaffenburg begonnen wurde, erwarb die private hessische Ludwigseisenbahngesellschaft das Gelände der ehemaligen Gustavsburg. 1858 wurde die Bahnstation in Gustavsburg ihrer Bestimmung übergeben. Die Beauftragung der Maschinenfabrik und Eisengießerei J. F. Klett aus Nürnberg durch die hessische Ludwigseisenbahngesellschaft zum Bau der Mainzer Südbrücke erfolgte im Jahr 1859. Für den Brückenbau errichtete die Klett & Co. einen Montageplatz und provisorische Werkstätten in Gustavsburg, die eigentlich nach Fertigstellung der Brücke wieder abgerissen werden sollten. Allerdings ging in Nürnberg gerade in diesen Jahren eine solch hohe Anzahl an Aufträgen für weitere Brücken- und Hochbauten ein, dass die Fabrik sie kaum bewerkstelligen konnte und der Standort Gustavsburg als Dependance ausgebaut wurde. Die Gustavsburger Werkstätten wurden mit allen notwendigen Maschinen und Maschinenbaueinrichtungen voll ausgestattet. Zudem gab es ein Bürogebäude mit Beamtenwohnung und Arbeiterunterkünfte, von denen aber keine Zeichnungen oder Fotografien überliefert sind. Für das ständig expandierende Unternehmen wurden immer dringender ausreichende Unterkünfte für die Arbeiter notwendig. Der Darmstädter Architekt und Städteplaner Prof. Karl Christian Hofmann (1856-1933), seinerzeit an der Technischen Hochschule Darmstadt, wurde seitens der Klett & Co. Mit der Konzipierung einer Arbeitersiedlung beauftragt, vermutlich um 1894, da aus dieser Zeit der abgebildete Straßenfluchtplan (Abb. 1) stammt.

Das ganzheitlich in der Formensprache der Gartenstädte gestaltete Ensemble der „Klett-Kolonie“ sollte eine kleinstädtische Idylle bilden und heimische Geborgenheit ausstrahlen. Für den Mittelpunkt der Siedlung wurde ein zentraler Platz geplant, an dessen Eckbereichen leicht geschwungene Straßen einmünden. Eingefasst wurde der Platz mit Reihenhäusern, die die Siedlung in etwa zwei gleich große Teilbereiche untergliedern. Die Häuser wurden differenziert gestaltet, und jede Wohneinheit bekam einen eigenen Hauseingang und einen individuell gestalteten Garten. Auch unterschieden sich die Häusertypen der Eck-, Doppel- und Vier-Familienhäuser, mit hochliegendem Erdgeschoss, einem Fachwerkobergeschoss bzw. einem Fachwerkkniestock, Walmdächern, Schleppgauben, kleingliedrigen Fenstern und teilweise seitlichen Türmen (Reihenhäuser am Cramer-Klett-Platz) oder loggienartigen Eingängen. Die Bauarbeiten wurden teils von Hofmann, teils vom Architekturbüro der Klett & Co. und anderen Architekten in der Ausführung begleitet.

1896 genehmigte der Aufsichtsrat der Maschinenfabrik Klett & Co. zunächst den Bau von etwa 30 Arbeiterhäusern für zusammen 100 Familien; spätere Erweiterungen ließen das Ensemble mit dem Cramer-Klett-Platz als Mittelpunkt dann bis 1906 auf einen Umfang von letztendlich 36 Häusern mit insgesamt 148 Wohnungen anwachsen.

Abb. 2 (Theodor von Cramer-Klett im Jahre 1854)

Die Siedlung wurde nach Theodor Freiherr von Cramer-Klett (1817-1884) – Unternehmer, Visionär und Pionier der Industrialisierung – benannt.

Nach dem Tod von Johann Friedrich Klett (1778-1847), Gründer der Eisengießerei und Maschinenfabrik Klett & Co. in Nürnberg, übernahm 1847 Theodor Cramer, nach seiner Heirat mit der Tochter des Firmengründers Emilie Klett dann Cramer-Klett, die Führung der Klett’schen Maschinenfabrik.

Bei der Übernahme des Betriebs durch Theodor Cramer-Klett waren die Begriffe Lohn- und Sozialpolitik noch Fremdwörter. Bis zur Einführung erster staatlicher Versicherungsgesetze, wie zum Beispiel des Krankenversicherungsgesetzes 1883 oder der Unfallversicherung 1884, war ihm die betriebliche Arbeiterfürsorge als Arbeitgeber besonders wichtig. (Vgl. Biensfeldt, 1922, S. 182/183).

Der Bau der Cramer-Klett-Siedlung als Arbeiter- bzw. Familienunterkunft mit angeschlossenem Kindergarten steht in der Tradition dieses Engagements. Theodor von Cramer-Klett starb 1884 und hat die Siedlung selbst nicht mehr erlebt. Es ist überraschend, dass der Name Cramer-Klett trotz der Bedeutung, die er für die Industrialisierung in Deutschland hatte, so sehr in Vergessenheit geraten konnte.

Das MAN-Werk in Gustavsburg zählt bis heute zu den bedeutendsten Industrieansiedlungen im Rhein-Main-Gebiet. Aus dem ursprünglichen Montageplatz entwickelte sich eine florierende Filiale von Klett & Co zum Bau zahlreicher Eisenbahnbrücken im süddeutschen Raum, in ganz Deutschland sowie in vielen europäischen Ländern und Übersee.

Abb. 3 (Cramer-Klett-Platz im Jahre 1928)

Es folgten der Bau von Staustufen, Hochöfen, Fabrikbauten, Gasbehältern, der Wuppertaler Schwebebahn, Kraftwerken, Theaterbauten und von vielem mehr. In Kriegszeiten wurden natürlich auch kriegswichtige Erzeugnisse hergestellt, wie Notbrücken, Lastwagen und U-Boot-Elemente.

„Wir gehen auf die Klett …“ Bis in die 1970er Jahre hielt sich dieser Ausdruck aus den Anfangsjahren. 1973 waren noch 4.500 Mitarbeiter bei der MAN Gustavsburg beschäftigt. Trotz oder auch gerade wegen seiner breit gefächerten Produktvielfalt geriet das relativ kleine Werk in große wirtschaftliche Probleme. Zunächst traf es in den 1970er Jahren den Brückenbau, die Sparten Aufzugsbau und Raumfahrttechnik wurden in den 1980er Jahren ausgegliedert. 1987 wurde das Presswerk in die MAN Nutzfahrzeuge AG eingegliedert; nur noch 750 Mitarbeiter waren in der Produktion beschäftigt. 2008 kam schließlich das endgültige Aus. Das Presswerk wurde von der Firma Hörmann Automotive Components übernommen. Damit hörte das MAN-Werk Gustavsburg auf zu existieren.

In den Gustavsburger Werkshallen werden heute Chassis, Karosserie- und Anbauteile für Nutzfahrzeuge produziert. Das ehemalige Betriebsgelände befindet sich immer noch im Besitz des Gesamtkonzerns der MAN. Die vorhandenen, teilweise ursprünglichen Fabrikhallen sind weiterhin von einer beeindruckenden Architektur und Größe. Die Cramer-Klett-Siedlung blieb ebenfalls noch im Besitz der MAN. Jahrzehntelang wurde die Siedlung jedoch seitens der Eigentümer vernachlässigt. Die alten Wohnungen waren mit ihren verhältnismäßig niedrigen Standards immer weniger gefragt.

Da die MAN Ende der 1970er Jahre die gesamte Arbeitersiedlung zu verkaufen beabsichtigte, stand zu befürchten, dass die künftigen Eigentümer durch übereilten Abbruch oder unsachgemäße Modernisierung die historischen, sozial- und baugeschichtlichen Werte der Siedlung zerstören könnten.

Nachdem die gemeinnützige Baugenossenschaft Mainspitze (BGM, ein Zusammenschluss von drei bereits 1912, 1913 und 1924 gegründeten Genossenschaften) das Gesamtensemble 1979 von der MAN erworben hatte, wurde dies unter Denkmalschutz gestellt. Mit Hilfe einer großzügigen Förderung des Landes Hessen konnte die BGM von 1980 bis 1992 umfassende Instandsetzungsarbeiten und Modernisierungsmaßnahmen einleiten. Daneben konnten viele störende Einbauten bereinigt werden. Zahlreichen örtlichen und regional ansässigen Handwerksbetrieben wurde die sensibel zu handhabender Sanierung und Modernisierung des alten Häuserbestandes anvertraut. Durch Einbau von Bädern und Heizungen und durch Erneuerung der Elektrik steigerte sich der Wohnwert erheblich. Dies war eine Rückkehr zu den Anfängen des Siedlungsbaus in Gustavsburg. Das Gestaltungsprinzip ist immer noch klar erkennbar, auch wenn die erste durchgängige Sanierungsphase teilweise als weitere historische Schicht angesehen werden muss.

Abb. 4 (Cramer-Klett-Platz im Jahre 1983)

2009 hat die gemeinnützige Baugenossenschaft Mainspitze begonnen, die Häuser zu veräußern. Anfangs waren ausschließlich die Mieter und deren Verwandte ersten Grades, also Kinder oder Eltern, kaufberechtigt. Über 100 Anwesen sind auf diese Weise inzwischen in private Hände gelangt. Die wenigen jetzt noch zu erwerbenden Liegenschaften mit Wohneigentum werden bei Freiwerden in einem Bieterverfahren versteigert.

Die Generalsanierung der ersten Häuser liegt nunmehr 40 Jahre zurück, und es hat wieder der Zahn der Zeit an der Siedlung genagt, sodass eine erneute Sanierung und Instandhaltung der einzelnen Wohnhäuser erforderlich wird.

Wer jedoch ein denkmalgeschütztes Haus besitzt, sollte wissen, dass alle verändernden oder instandhaltenden äußerlichen Maßnahmen der Genehmigungspflicht durch die Untere Denkmalschutzbehörde der Kreisverwaltung Groß-Gerau unterliegen, welche die denkmalschutzrechtliche Genehmigung im Einvernehmen mit dem Landesamt für Denkmalpflege Hessen erteilt. Der Umfang genehmigungspflichtiger Maßnahmen der als Gartenstadt konzipierten Cramer-Klett-Siedlung ist weit gefasst. Dazu gehören Anstricharbeiten, Putz- und Maurerarbeiten, Dachdeckerarbeiten, Reparatur von schadhaftem Fachwerk, Fassade oder Holzschindeln oder die Erneuerung von Fenstern. Vorhandenes sichtbares Fachwerk ist zu erhalten und sollte nicht verputzt oder verkleidet werden. Jedoch wissen die wenigsten, dass auch die Gestaltungen- bzw. Veränderungen des Gartens oder Vorgarten darunterfallen.

Das historisch vorgegebene und stilprägende Fassadenbild eines Gebäudes ist bei einer Sanierung zu erhalten bzw. wiederherzustellen. Grundsätzlich ist es das primäre Ziel bei jeder Sanierung, das Original zu erhalten.

„Was ist jedoch bei den ehemaligen Arbeitersiedlungshäuschen nach 125 Jahren das Original?“

Teilweise vorzufindende Holzschindelfassaden sind nicht bauzeitlich, sondern wurden erst in späteren Jahren angebracht.

Der genaue Zeitraum lässt sich jedoch nicht mehr feststellen. Sowohl die Holzfenster als auch der Fassadenputz wurden bei der Sanierung von 1980 bis 1992 erstmals an den Häusern erneuert (s. Abb. 5 und 6).

Abb. 5 (Cramer-Klett-Platz 7 und 9; Sanierung im Jahre 1983)
Abb. 6 (Cramer-Klett-Platz 7 und 9; Erscheinungsbild im Jahre 2013)

Die Holzfenster sind zum größten Teil mit Sprossen- und Flügelteilung bzw. Oberlichtern. Das Fassadenfarbschema stammt aus dem Jahr 1980, es ist nicht bekannt, ob seinerzeit eine Befunduntersuchung gemacht wurde. Dies Schema ist Referenz für die Renovierungen bis heute. Stellenweise erfolgte an den Häusern, insbesondere bei baulich veränderten Fassaden, der Rückbau nach historischen Bildaufnahmen, jedoch wurde dies nicht konsequent umgesetzt.

Vorhandene Klappläden sind bei der Generalsanierung ersatzlos weggefallen. Aber auch der Weg andersherum wurde bei dem Wiederaufbau praktiziert: Spätere errichtete Anbauten – insbesondere aus den späten 1950er Jahren – wurden nur einer anderen Nutzung zugeführt, nicht zurückgebaut.

Die Identifikation der Bewohner mit der Cramer-Klett-Siedlung war zwar stets hoch. Allerdings sind
die Wohnflächen der Zwei- bis Vierzimmerhäuser mit 40 bis 90 Quadratmetern für heutige Verhältnisse recht knapp bemessen. Die Wünsche der heutigen privaten Eigentümer oder Mieter der Baugenossenschaft Mainspitze, die engen räumlichen Verhältnisse durch Gartenhäuser und Gartenpavillons zu kompensieren und für die zunehmende Motorisierung befestigte Parkplätze zu schaffen, erhöhen den Druck auf die Kreisverwaltung Groß-Gerau, die Baugenossenschaft Mainspitze und die hessische Denkmalpflege. Dazu kommt das vielfältige Angebot von Baumärkten, sodass ein Empfehlungskatalog respektive ein Leitfaden für die Verwendung geeigneter Materialien und Farbkonzepte für die Häuser und Gärten dringend erforderlich wäre. Hierbei wäre aber überdies eine Adaption von modernen Elementen zu überdenken, um mögliche Defizite wie beispielsweise fehlende Vordächer, die in früheren Jahren entfernt wurden, zu kompensieren. Nicht nur, um damit die Wohnqualität der Eigentümer oder Mieter zu erhöhen, sondern um primär die Substanz der Häuser und Gärten zu schützen.

„Geplante Empfehlungskatalog der Landesdenkmalpflege Hessen“

Eine Empfehlungskatalog bzw. ein entsprechender Leitfaden für die Instandhaltung und Instandsetzung ist schon seit mehreren Jahren geplant. Der Förderverein Cramer-Klett-Siedlung Gustavsburg e.V. wollte sich aktiv daran beteiligen, die hessische Denkmalpflege bei der Erarbeitung unterstützen und dafür auch Wünsche oder Materialvorschläge bei den heutigen Eigentümern erfragen. Es sollte ein Miteinander, nicht Gegeneinander erreicht werden, für einen später erfolgreichen und akzeptierten Leitfaden. Jedoch war dies seitens der Landesdenkmalpflege Hessen nicht gewünscht. Auf den Empfehlungskatalog wartet man bis heute.

Im Prozess der Genehmigung gibt es nun je nach Antrag einzelne Vorgaben seitens der Denkmalbehörden: Im zurückliegenden Jahrzehnt wurde begonnen, schadhafte und morsche Holzschindeln, Fenster und Türen zu erneuern. Bei genauer Betrachtung findet man in der Cramer-Klett-Siedlung bis zu vier unterschiedliche Holzschindelformen. Diese entsprechen zwar immer der klassischen Rautenform, jedoch mit unterschiedlichsten Maßen, und sie sind entsprechend zu erneuern. Werden Fenster mit bestehender historischer Fensterteilung erneuert, ist die ursprüngliche Fensterteilung beizubehalten oder nach Vorgaben wiederherzustellen.

Fensterrahmen und Sprossen sind einheitlich schokoladenbraun RAL 8017 zu streichen. Rollläden und Außenjalousien sind unzulässig. Eingangstüren müssen dem typischen Bestand angepasst werden und sind nur in Holz zulässig.

Abb. 7 (Fensterprofil dem Original nachempfunden)
Abb. 8 (Cramer-Klett-Platz 7 und 9; Erscheinungsbild im Jahre 2017)

Die Siedlungshäuschen sind alle noch mit dem originalen von Wilhelm Ludowici entwickelten und 1881 patentierten Z1 Doppelmuldenfalzziegel eingedeckt. Ein einheitliches Bild ergibt sich durch die Tatsache, dass alle Häuser gleich und nicht nach Nutzungseinheiten getrennt gedeckt sind.

Die Erhaltung dieses Erscheinungsbildes ist von der Denkmalbehörde ebenso gefordert wie die Reparatur durch Austausch auf kleinen Flächen mit Altmaterial gewünscht wird. Dies stellt die Eigentümer vor große Herausforderungen, zumal verwendbares Altmaterial rar ist und lange keine passenden neuen Ziegel zur Verfügung standen.

125 JAHRE HABEN DEUTLICHE SPUREN HINTERLASSEN

125 Jahre haben deutliche Spuren hinterlassen, sodass partielle Reparaturen heute nicht mehr ausreichend sind. Außerdem sind auch die Dachkonstruktionen, bedingt durch permanenten Feuchtigkeitseintritt, teilweise sanierungs- bzw. erneuerungsbedürftig. Wird eine zeitgleiche Dachsanierung aller verbundenen Wohneinheiten erforderlich, bedeutet dies einen hohen finanziellen Aufwand. Wenn sich nicht alle Eigentümer eines Gebäudekomplexes beteiligen wollen oder können, stellt dies die sanierungswilligen Eigentümer vor Herausforderungen. Eine staatliche Unterstützung in Form einer Zuwendung ist derzeit nicht vorgesehen. Das hessische Landesamt für Denkmalpflege vertritt gegenwärtig die Ansicht, dass eine Erneuerung einer Dacheindeckung zu den normalen Instandhaltungsmaßnahmen zählt.

Denkmaleigentümer dürften nicht davon ausgehen, dass jede Sanierungs- oder Instandsetzungs-maßnahme finanziell unterstützt wird. Andere Hauseigentümer müssten auch in bestimmten Intervallen solche Sanierungen bewältigen. Jedoch stehen andere Hauseigentümer eben nicht vor der beschriebenen Herausforderung.

Betroffene Eigentümer fühlen sich von der Landesdenkmalpflege Hessen im Stich gelassen. Das vorrangige Ziel sollte bei denkmalgeschützten Objekten immer die Substanzerhaltung sein. Bei einer Neueindeckung nach historischem Vorbild ist mit 10 Prozent Mehrkosten gegenüber einer herkömmlichen Eindeckung zu rechnen. Diese Mehrkosten müssten gemäß der Richtlinie des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst (HMWK) als Zuwendungen für Kulturdenkmäler übernommen werden.

Im weiteren Verlauf konnte in Zusammenarbeit mit der Unteren Denkmalschutzbehörde und dem Landesamt für Denkmalpflege Hessen ein kleiner Durchbruch erzielt werden. Der Bedarf an historischen Dachziegeln hat die Dachziegelindustrie dazu bewegt, den einen oder anderen Dachziegel wieder zu produzieren, darunter auch den ehemals Z1 Doppelmuldenfalzziegel (Abb. 9). Bei einer notwendigen Neueindeckung von mindestens 50 Prozent eines Gebäudes können nun Eigentümer ihre Dachsanierung mit neuen Ziegeln, in Absprache mit der Denkmalschutzbehörde Groß-Gerau, vornehmen. Der Förderverein Cramer-Klett-Siedlung Gustavsburg e.V. unterstützt die Eigentümer bei allen Fragen rund um das Wohnen im Denkmal in diesem Prozess.

Abbildung_9
Abb. 9 Koramic TRADI 12, kupferbraun in Anlehnung an den nostalgischen Z1 Doppelmuldenfalzziegel anno 1881

Bei den ebenfalls geschützten Außenanlagen schlagen die Wellen mitunter hoch. Die Gartengestaltung ist – noch – vergleichsweise einheitlich. Sie zeichnet sich durch rote hölzerne Lattenzäune, niedrige Maschendrahtzäune, durch kleinwüchsig bepflanzte grüne Vor- und Nutzgärten oder eine Rasenfläche aus. Fußwege zu Hauseingängen sind mit Waschbetonplatten oder groben Splitt versehen. Das auch diese Außenanlagen denkmalgeschützt sind, ist nur schwer zu vermitteln, groß ist der Gestaltungswille der neuen Eigentümer: Bodenbeläge werden gegen Pflastersteine ausgetauscht, Vorgartenflächen für einen Autostellplatz betoniert und überdacht, der eine mag einen Gartenteich, der andere liebt Rankgerüste und Pergolen. Auch hochwachsende Nadelbäume und dichte Thujahecken sind entstanden, obwohl im Kaufvertrag strenge Vorgaben hierzu enthalten sind und Zuwiderhandlungen mit Geldstrafen belegt sind.

Gerade hier fehlt ein klares Gesamtkonzept mit allen notwendigen Angaben zu den erhaltenswerten und wiederherzustellenden wesentlichen Merkmalen des Denkmals. Hier sind die Denkmalbehörden ebenso gefragt wie die Kommune, die eine Gestaltungssatzung erarbeiten könnte.

Abb. 10 Außenanlagen

Baudenkmäler sollen vor vermeidbaren Veränderungen geschützt werden, um sie als authentisches Zeugnis der Vergangenheit zu erhalten. Die wirtschaftliche und energiebewusste Instandsetzung ist eine gute Voraussetzung, um diese langfristig zu erhalten. Andererseits – und dies mag die Skeptiker bezüglich Wohnen im Baudenkmal in jedem Fall überzeugen: Das Wohnen in einem Denkmal bietet viel – vor allem eine besondere Atmosphäre.

„Wer im Denkmal wohnt, wohnt mit der Geschichte. Ein Denkmal ist ein Fenster in die Vergangenheit, es zeigt durch viele Details, wie die Menschen in früheren Zeiten gelebt, gebaut und gewohnt haben.“

Da nur die Außenhülle der romantischen ehemaligen Arbeitersiedlung als Gesamtensemble unter Denkmalschutz gestellt wurde, können gewünschte Arbeiten in den Innenräumen ganz nach eigenen Ideen durchgeführt werden. Für den denkmalgerechten Fortbestand der ehemaligen Arbeitersiedlung fehlt jedoch dringend ein Gesamtkonzept, ein Konzept, das moderne Anforderung mit sensibler Erhaltung der Originalsubstanz verbindet zusammen mit einer gleichzeitigen Berücksichtigung im hessischen Landesfördermitteltopf. Denn Sanierungsmaßnahmen dürfen für bestehende und künftige Eigentümer, besonders auch für junge Familien, nicht nur ein Traum oder gar ein Albtraum bleiben, sondern müssen realisier- und finanzierbar sein.

Eine gehörige Portion Eigeninitiative und jede Menge Enthusiasmus werden ohnehin vorausgesetzt Dennoch besteht der größte Teil des Reizes tatsächlich darin, Kultur und Geschichte in den eigenen vier (manchmal auch mehr oder gar „runden“) Wänden täglich spüren zu können und damit letztlich auch zum Erhalt von Denkmälern beizutragen.

MATTHIAS WELNIAK
Vorsitzender des Förderverein Cramer-Klett-Siedlung Gustavsburg e.V.
www.cramer-klett-siedlung.de
m.welniak@cramer-klett-siedlung.de


Abbildungsnachweis
Abb. 1: Hessisches Staatsarchiv Darmstadt (HStAD)
Abb. 2: Theodor Cramer-Klett 1854, S. 44
Abb. 3, 4, 5, 7: Baugenossenschaft Mainspitze eG
Abb. 6, 7, 8, 9, 10: Matthias Welniak

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